Freitag, 8. Juli 2011

Vorurteile über Behinderte und wie sie entstehen

Im Rahmen meiner Initiative gegen Vorurteile möchte ich von Zeit zu Zeit auch über Erlebnisse schreiben, die mich zum Nachdenken über diese Thematik bringen. Vorurteile sind überall und können wirklich jedem begegnen. Auch können Vorurteile nicht nur auf tatsächlichen Erfahrungen beruhen, sondern auch auf völlig absurden Hypothesen. So hält sich, meist glücklicherweise nur aus Spaß, das Vorurteile, blonde Frauen seien dümmlich, sehr hartnäckig. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die Vorurteile gegenüber einer bestimmten Gruppe gerade zu "provozieren". Das können blonde Frauen sein, die behaupten, blond zu sein, würde gewisse Dummheiten rechtfertigen. Es kann sich aber auch um Gruppen handeln, die tatsächlich mit ernsthaften Vorurteilen zu kämpfen haben.

Heute möchte ich über meine Erfahrungen mit Behinderten berichten. Das Thema "Behinderte" ist ziemlich sensibel und sollte mit Vorsicht behandelt werden, denn man gerät sehr schnell auf die Vorurteilsschiene. Dennoch halte ich es für falsch, alles zu verschönigen und zu übersehen, was man kritisiert. Auch, wenn es um Behinderte geht. Denn sie sind doch Menschen wie jeder andere auch.

Meine erste Begegnung mit jemandem, der als behindert gilt, war relativ früh, mit etwa zehn Jahren. Meine Eltern hatten Bekannte, deren Tochter in ihrer Kindheit plötzlich gelähmt wurde. Von einem Tag auf den anderen (und das meine ich wörtlich) musste sie beginnen, ihr Leben im Rollstuhl zu verbringen. Ein tragisches Los, vor allem, da sie noch so jung war (ich meine, sie hätte gerade ihre Grundschule beendet).

Durch sie habe ich früh gelernt, dass man manche Dinge im Leben einfach akzeptieren muss, anstatt ein Leben lang zu versuchen, sie aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Denn trotz der viele Nächte, die man schlaflos unter Tränen hinter sich bringt, der nächste Tag kommt und es wird sich nichts ändern. Und irgendwann beginnt man zu träumen, doch diese Träume sollten im Schlaf bleiben und nicht in die Realität einziehen.

Ihre Mutter war unglaublich fürsorglich, behandelte sie aber keinesfalls bevorzugt. Ihre Familie hatte nicht viel Geld, da waren keine großen Sonderwünsche drin. Sie wurde nicht verhätschelt, nicht mehr verwöhnt, als es für ein Kind notwendig und gut ist. Sie hatte ihre Aufgaben, die sie erledigen und ihre Schule, die sie beenden musste. Zu Ausflügen mit Freunden und Bekannten wurde sie stets mitgenommen, sie sah viel von der Welt - wenn auch nur von der deutschen. Es blieb nicht viel Zeit nachzudenken, worüber man nicht nachdenken sollte.

Und so machte sie einen guten Abschluss und begann, zu studieren. Ich habe sie als sehr lebenslustige, offenherzige und großzügige Person erlebt. Sie war hilfsbereit und selbstständig. Das war und ist bis heute sehr beeindruckend. Heute lebt sie mit ihrem Freund zusammen, hat ihr Studium beendet und arbeitet. Das kann bei weitem nicht jeder von sich behaupten.

Eine andere Geschichte erzählt von einer Bekannten meiner Mutter, die seit ihrer Geburt mit mehreren Behinderungen lesen muss. Sie sieht nur auf einem Auge, kann einen ihrer Arme nicht richtig bewegen und hat ein Problem mit ihrer Hüfte, weswegen ihr das Gehen schwer fällt. Zudem ist sie Ausländerin und hat neben einem deutschen Akzent noch einen leichten Sprachfehler.

Auch sie ist akademisch hoch gebildet, hat es aber durch ihre doch sehr vielfältigen Behinderungen sehr schwer, Arbeit selbstständig durchzuführen. Lesen und Schreiben geht nicht ohne Hilfsmittel oder sogar eine Hilfskraft. So lernte ich sie im Übrigen kennen: sie stellte mich als Assistenz ein. Meine Aufgaben waren vielfältig: ich sollte Interviews, die sie geführt und auf Band aufgenommen hatte, aufschreiben, Emails verschicken, ihre Recherchen niederschreiben etc. Oftmals half ich nicht nur physisch, sondern stand ihr auch zur Seite, wenn sie fragen bezüglich der deutschen Sprache hatte, verbesserte Fehler, die sie in Texten gemacht hatte und formulierte einige Emails um.

Die Zusammenarbeit war nicht immer einfach. Zwar fielen mir die Aufgaben nicht sonderlich schwer, bin ich doch in der Generation Computer aufgewachsen und war seit jeher ein kleiner Schreiberling. Dennoch musste ich von Zeit zu Zeit feststellen, dass meine Engagement nicht immer die Anerkennung bekam, die es verdiente.

Beim Aufschreiben der Interviews z. B. sollte ich auf den genauen Wortlaut achten. Ich hielt es allerdings für legitim, Sätze, die Fehler in Grammatik, Satzbau oder Wortwahl enthielten, richtig aufzuschreiben. Diese machte nicht immer, aber in den meisten Fällen meine Arbeitgeberin, die von sich so überzeugt war, dass sie von Fehlern nichts wissen wollte. Immer wieder erklärte sie mir, dass sie trotz ihrer Behinderung einen guten Universitätsabschluss gemacht hatte und ein Profi auf ihrem Gebiet war. Ich solle sie daher nicht so hinstellen, als sei sie irgendwie unfähig.

Natürlich war das ganz und gar nicht meine Absicht gewesen. Ich machte keinerlei Unterschied zu anderen Arbeiten, in denen ich Menschen, die Dokumente veröffentlichen wollen, auf Fehler in diesen hinweise. Im Gegenteil, gewissermaßen übernehme ich sogar die Lektorenrolle, die jeder Autor in Anspruch nehmen sollte. Und mit einer möglichen Herabstufung ihrerseits hatte mein Verhalten auch nichts zu tun. Ich mache meine Arbeit gründlich und ich lege viel Wert auf Korrektheit von Texten, in inhaltlicher und grammatikalischer Hinsicht. Doch für meine Arbeitgeberin war dies kein Argument. Immer wieder machte sie mich darauf aufmerksam, dass sie etwas doch ganz anders gesagt hätte. Sie wurde häufig sehr emotional, stand kurz vor Tränen, wenn sie mir klar machte, dass ihre Behinderung und auch ihr Migrationshintergrund sie immer sehr belastet haben und sie niemand deswegen ernst nimmt. Dass ich sie ernst nahm, war ihr leider nur wenig wert.

Ich möchte dieses Verhalten aber keinesfalls verurteilen. Vielmehr möchte ich darüber nachdenken, wieso es zu dieser doch sehr negativen und auch traurigen Einstellung gekommen ist.

Diese Bekannte hat, wie ich später feststellen konnte, ihr Schicksal nicht gänzlich akzeptiert. Nicht nur sind ihre emotionalen Ausbrüche Zeichen dafür, sondern auch die Tatsache, dass sie sich regelmäßig bei Wahrsagern Rat über ihre Zukunft sucht. Diese Erkenntnis hat mich sehr berührt. Während ich Menschen, die im Fernsehen anrufen, an Horoskope glauben und in die Ateliers verschiedener Leserinnen und Legerinnen gehen, verhöhnt habe, wurde mir klar, was für Menschen das eigentlich sind, die so sehr an diesem (Irr-)Glauben festhalten. Und umso mehr war ich empört darüber, dass so viele Menschen bereit sind, diesen Hoffnungsschimmer auszunutzen. 

Jeder Mensch braucht jemanden, auf den er sich verlassen kann. Behinderte wahrscheinlich noch mehr, als gesunde Menschen. Natürlich will man irgendwann selbstständig sein, etwas erreichen, ein normales Leben führen - sofern dies eben möglich ist. Dennoch kann man den Gedanken, dass man anders ist, nicht einfach verdrängen. Man kann nicht so tun, als wäre da gar nichts. Dass dieses Etwas aber bei weitem nicht so tragisch sein muss, das wird einem nur selten gesagt. Vielmehr wird man von allen wie ein Sonderling behandelt, wie jemand, der auf andere angewiesen ist, immerzu Hilfe braucht, selbst nichts auf die Reihe bekommt. Das dämmt das Selbstbewusstsein - obwohl Behinderte nicht weniger ein Recht auf ein gesundes Selbstbewusstsein haben, als alle anderen auch.

Was dadurch wahrscheinlich entsteht, ist der Eindruck, dass dieses Verhalten normal ist. Viele Behinderte möchten und verlangen sogar, dass man sie "normal" behandelt. Die Definition von "normal" liegt allerdings im Auge des Betrachters. Denn obwohl man es versucht, ertappt man sich wohl häufig dabei, dass man eben doch nicht "normal" mit Behinderten umgeht. Die meisten werden da sicher zustimmen, dass man in einigen Situationen einfach unbewusst davon ausgeht, dass man dem Behinderten eine alleinige Konfrontation nicht zumuten kann. Dieses Gefühl kennen auch Mütter, die ihren Kindern bei allem helfen wollen, weil sie glauben, die Kinder kämen mit vielem noch nicht klar. Dabei können Kinder schon in jungen Jahren unglaublich viel alleine schaffen. Und sie wollen es sogar! Nur traut es ihnen kaum jemand zu. Und so erzieht man Kinder oft zur Unselbstständigkeit. Auch Behinderten wird oft eine gewisse Selbstständigkeit verwehrt. Sicher gibt es wohl Dinge, bei denen sie tatsächlich Hilfe brauchen. Aber hat die nicht jeder?

Meine Erfahrung ist, dass Menschen, die im Laufe ihres Lebens schwer erkranken oder behindert werden, mehr darauf bedacht sind, ihre Selbstständigkeit durchzusetzen. Mein Vater ist ein gutes Beispiel dafür. In seinen 40ern erkrankte er unheilbar und hat sich seit dem sehr verändert. Vor allem körperlich ist für ihn lange nicht mehr all das möglich, was früher selbstverständlich war. Viele Tätigkeiten werden schon nach kürzester Zeit anstrengend und bringen ihn an seine Grenzen. Das Gefühl des eigenen Körpers wird schwächer, die Fingerspitzen taub, der Körper schwer und unbeweglich. Man will möglichst viel alleine machen, man versucht es, doch manchmal braucht man einfach Hilfe. Mein Vater ist sehr stolz. Und um Hilfe bittet er erst im absoluten Notfall. Es ist schwer, sich damit abzufinden, dass man "bedürftig" ist. Man träumt von der Zeit, in der noch alles gut war. Man wird melancholisch. Und man wird auch aggressiv. Wenn Dinge nicht klappen, wie sie es früher einmal taten, ist man gereizt. Man verflucht sein Schicksal und sehnt sich Erlösung herbei. Viele verweilen in diesem Stadium, viele schaffen es aber auch, es hinter sich zu bringen. Wie ich gemerkt habe, ist vor allem der Antrag eines Behindertenausweises für viele eine große Hürde. Denn behindert zu sein, dass lässt sich gut beiseite schieben. Doch wenn es erst einmal offiziell ist - dann wissen es alle. Und dann geht die Geschichte los. Und alle wollen bloß helfen. Man gerät in den Mittelpunkt seines Umfelds und es wird einem dadurch Tag für Tag deutlicher, dass man nun anders ist.

Neben oder auch unter denen, die versuchen, das Beste aus ihrem Schicksal herauszuholen und denen, die diese letzte innere Hürde (noch) nicht überwunden haben, habe ich noch eine weitere Erfahrung mit Behinderten gemacht. Während ich für die einen Respekt, für andere (und verurteilt mich deswegen bitte nicht) viel Mitleid empfinde, gibt es auch die Sorte, bei denen mein Verständnis an seine Grenzen trifft.

Wir alle haben Probleme. Die einen weniger, die anderen mehr, einige gravierendere als andere. Doch jeder von uns hat ein Päckchen beliebiger Größe zu tragen, dass uns mal leichter, mal schwerer erscheint. Und da der Mensch ein soziales Wesen und auf eine Gesellschaft angewiesen ist, gilt die unausgesprochene Regel "Eine Hand wäscht die andere". Wir helfen einander, wo wir können und uns wird geholfen. Doch in jeder Gesellschaft findet sich auch jemand, der sich die sogenannte "Extrawurst" zu gönnen versucht. Jemand, der Ansprüche erhebt, die über das hinaus gehen, was üblich ist.

An der Emanzipation der Frau fest zu halten, ist bis zu einem bestimmten Grad nicht nur akzeptabel, sondern auch erforderlich. Falsch ist es meiner Meinung nach allerdings, als Frau z. B. darauf zu bestehen, dass man einem höherqualifizierten Mann vorgezogen wird, nur auf Grund der Tatsache, dass man eine Frau ist. Zwar sollte man vom traditionellen Bild, Führungspositionen seien Männern vorbehalten, Abstand nehmen, dies aber nicht in eine Diskriminierung des Mannes umwandeln. Ich als Frau behaupte, dass auch uns Frauen oft nicht das zugetraut wird, was wir wirklich könnten. Durch eine Frauenquote soll uns der Zugang zu höheren Arbeitspositionen eröffnet werden, dies sollte aber nicht bedeuten, dass Frauen einen Freifahrtschein haben. Man muss an beiden Seiten arbeiten. Männer sollten nicht aufgrund ihres Geschlechts Frauen vorgezogen werden, sondern aufgrund ihrer Qualifikationen und ihrer Eignung. Und auch Frauen sollten an diese Kriterien gebunden werden. Und auch was Sicherheitsmaßnahmen zugunsten von Frauen angeht, habe ich eine gewisse Skepsis. Frauen werden häufiger Opfer von Raubüberfällen und Gewalttaten, weil sie als schwächer gelten. Wenn man die Wahl hat, greift man schließlich nicht unbedingt den Boxer an seinem Auto an, sondern wartet lieber, bis die schmächliche kleine Frau um die Ecke gebogen kommt. Und leider tragen viele Frauen selbst zu diesem Bild bei. Das Geschlecht im Bewusstsein der Gesellschaft stärken wäre angesagt. Und auch die Übermacht des Mannes darf man ruhig anzweifeln. Denn auch die werden leider oft genug Opfer von Gewalttaten. Sicherheitsmaßnahmen sind gut, aber ohne eine gründliche Wurzelbehandlung leider nur bedingt wirkungsvoll.

Auch Behinderten werden viele Sonderrechte zugesprochen. Viele sollen den Zugang zu bestimmten Institutionen erleichtern, stellen Geldmittel zur Verfügung oder Dienstleistungen. Und vieles davon ist wichtig, nicht zuletzt, weil die Gesellschaft voller Vorurteile ist und nur von Chancengleichheit redet, anstatt sie zu praktizieren. Fragt Euch doch einmal selbst: hättet ihr die Wahl, bei gleicher Qualifikation, zwischen einem gesunden Menschen und einem Behinderten für eine Stelle in einem Unternehmen, bei dem der Behinderte nicht benachteiligt wäre (z. B. dass die Stelle nicht viel Bewegung erfordert, die ein Behinderter evtl. schwer ausführen könnte), einen von beiden einzustellen, würde vielleicht einer von hundert oder tausend tatsächlich den Behinderten wählen. Ich selbst kenne jemanden, der dies getan hat. Doch er ist der einzige, von dem ich in meinem Bekanntenkreis gehört habe.

Doch auch bei der Vergabe von Sonderrechten an Behinderte sollten gewisse Voraussetzungen gelten.

Eine aktuelle Situation in meinem Freundeskreis hat mich ein wenig darüber nachdenken lassen. Ich selbst beziehe für mein Studium Bafoeg. Es ist zur Hälfte zinsloses Darlehen, zur anderen Hälfte Förderung, die ich nicht zurückzahlen muss. Aber um diese Hälfte kann ich mich nicht so einfach drücken. Und auch für die Zahlung muss ich einiges tun. Ich kann meinen Studiengang nicht immer ohne weiteres wechseln, ich muss Leistungsnachweise erbringen, ich darf nicht zu oft durchfallen und vor allem nicht viel länger brauchen, als es die Studienordnung vorsieht. Um Wohnung und Verpflegung muss ich mich selbst kümmern und auch meine Lernmaterialien kommen mir nicht unbedingt zugeflogen. Mit meinem guten, mittleren NC komme ich zwar in viele Studiengänge rein, aber eben nicht in alle. Würde ich bspw. Medizin studieren wollen, müsste ich mehrere Jahre warten, um überhaupt eine minimale Chance zu bekommen (zumindest in Köln).

Um Behinderten den Zugang zur Hochschule zu erleichtern, gibt es die sogenannte Härtefallregelung. In diesem Fall spielt der NC keine Rolle. Diese Regelung lässt sich im Grunde ganz gut durchsetzen. Ein bestimmtes Kontingent an freien Studienplätzen gibt es fast immer und wieso sollten Behinderte nicht auch studieren dürfen, was ihnen Spaß macht?

Eine Kleinigkeit jedoch, die macht mich etwas stutzig. Das Studium ermöglicht eine Berufsqualifikation. Das bedeutet, dass jemand, der studiert, sich für eine bestimmte Berufsgruppe entscheidet, in der er später tätig sein will. Viele Behinderte sind allerdings nicht in der Lage, gewisse Berufe aus zu üben. Jemand, der seine Arme nur schwer bewegen kann, wird sich als Programmierer schwer durchsetzen können. Im Übrigen halte ich es auch nicht unbedingt für richtig, einem Unternehmen Geld zu zahlen, damit es einen Behinderten beschäftigt. Aus wirtschaftlicher Sicht ist das auf Dauer auch nicht tragbar - warum muss der Steuerzahler dafür aufkommen? Und auch aus menschlicher Sicht finde ich es leicht herabwürdigend, wenn ich weiß, dass man meinen Arbeitgeber bezahlt, damit ich für ihn arbeite. Darauf kann doch wirklich niemand stolz sein: weder der Behinderte, noch der Arbeitgeber, noch der Staat! Da muss eine ganz andere Herangehensweise her!

Genauso wenig halte ich es für sinnvoll, jemanden mit einen geistigen Behinderung etwas studieren zu lassen, das in irgendeiner Weise mit der Psyche anderer Menschen zu tun hat. Ich denke da an Berufe wie Lehrer oder Psychologen. Trotz Härtefallregelung sollte man doch genauer hin schauen, ob ein Studium überhaupt zu der Ausübung eines Berufs befähigen kann. Ist dies möglich, spricht nichts dagegen, Sonderregelungen walten zu lassen. Doch in einigen Fällen muss ich einfach sagen, dass es ein gewisses Ungleichgewicht gibt zwischen Hilfestellung und Unfairness.

In meinem Bekanntenkreis trat neulich folgende Situation auf: ein behinderter Student möchte sich für ein weiteres Studienfach bewerben. Er zeigt in seiner Behinderung unter anderem autistische Züge und ist charakterlich leider wenig ausgeglichen. Er schweift ständig ab und verweilt lange Momente in Tagträumen. Und auch privat beherrscht ihn das Chaos. In Ermangelung eines sich kümmernden Vaters, sucht er in Büchern und Spielen nach einem Ersatz, nach Helden, mit denen er sich zu identifizieren versucht. Ein, zugegeben, eher kindlicher Zug, für einen über 20-Jährigen. Freud stellte diese Form von Abwehrmechanismus in seiner Psychoanalyse fest und bezeichnet sie als Widerstand und auch Schutz des psychischen Gleichgewichtes.
Die Wahl des Studenten für ein Zweitfach wäre übrigens Psychologie gewesen. Ein Beruf, den er mit Sicherheit, niemals hätte ausüben können - oder dürfen. Das klingt vielleicht hart und für einige unfair, doch es ist, auch völlig unabhängig von der Behinderung, eine Tatsache. Es gibt Menschen, die sind für diesen Beruf geeignet und Menschen, die sind es eben nicht. Die Gründe dafür sind meiner Meinung nach völlig egal. Und ob behindert oder nicht - bei manchen Berufsfeldern sollte man einfach genauer auf eine Eignung achten. Und weniger auf den NC. Praktizierbar ist dies natürlich nicht. Für so etwas will  man schließlich kein Geld ausgeben.

Was mich aber, abgesehen von der doch sehr unpassenden Studienwahl, sehr überrascht und auch etwas schockiert hat, war seine Reaktion auf die Absage der Universität, mit der Begründung, er studiere ja schon ein anderes Fach. (Wobei ich hier nicht davon ausgehe, dass dies tatsächlich die einzige Begründung ist)
Das rege Unverständnis für diese Entscheidung und die Empörung darüber kann ich leider nicht nachvollziehen. Denn auch ein gesunder Student kann nicht einfach mal eben so ein zweites Fach studieren. Es gibt Voraussetzungen, für alle. Es gibt Sonderregelungen, aber keine Ausnahmen für alles. Und das ist es, was mich so stört. Besagter Student geht bei den ihm entgegen fallenden Leistungen eben nicht von Sonderregelungen (und das Wort mag für einige etwas entwürdigend gewählt sein) aus, sondern von Ausnahmen, die ihm gelten. Soweit ich von anderen mitbekommen habe, genießt er auch zu Hause Vorzüge, die man nicht allein dem Kreis der Behinderten, sondern viel mehr dem der Wohlhabenden zuzuschreiben ist. Ich halte diese Unterscheidung für wichtig, da man diese zwei Punkte strikt auseinander halten sollte. Denn es ist vielmehr ein Phänomen der Wohlhabenden, sich gewisse Ausnahmen zur Regel zuzugestehen.

Und an dieser Stelle schließt sich der Kreis zum Titel dieses Beitrags.

Denn die Unzufriedenheit, die ich bei dem Verhalten des besagten Studenten empfinde, richtet sich nicht an ihn als Behinderter, sondern an ihn als einen verwöhnten Menschen, der die Vorzüge seines Wohlstandes auf das Leben als Behinderter überträgt. Diese gewisse "Arroganz" rührt nicht von der Behinderung, sondern von der Tatsache, dass man ihm scheinbar nie beigebracht hat, wieso er so leben kann, wie er lebt. Dass er als Behinderter in der Gesellschaft auch nicht mehr verlangen kann, als andere, während es in seiner Familie anders aussieht. Und auch, wenn ich ihn deswegen nicht verurteilen kann, denn er wird wahrscheinlich rein gar nichts dafür können, so glaube ich dennoch, dass es genau solche Fälle sind, die Vorurteile gegenüber Behinderten nähren. Denn auch als Außenstehender verbindet man die Kritikpunkte, die sich eigentlich gegen etwas anderes richten, letztendlich mit der viel offensichtlicheren Behinderung.

Wie am Anfang schon erwähnt ist dies ein sehr sensibles Thema. Im Übrigen denke ich, dass es das nur ist, weil man Behinderte "schützen" möchte. Ich selbst hüte mich manchmal davor, jemandem meine Meinung ins Gesicht zu sagen, wenn ich glaube, dass er oder sie es nicht erträgt. Doch ich denke, dass jeder lernen muss, mit Kritik klar zu kommen. Wer hat nicht schon einmal erlebt, wie jemand einem anderen nette Worte zusprach, hinter dessen Rücken aber lästerte oder Kritik aussprach? Und genau das möchte ich nicht, zumal ich der Überzeugung bin, dass die meisten Behinderten es durchaus merken, wenn man ihnen etwas vorlügt.

Ich möchte keinem Behinderten etwas vorwerfen. Weder die Behinderung selbst, noch die damit in Zusammenhang stehenden Frustrationen, Benachteiligungen, Sonderrechte etc. Vielmehr möchte ich Menschen, Behinderte oder nicht, dazu aufrufen, über den Wert, die Würde des Menschen nachzudenken. Denn meiner Meinung nach nimmt man dem Menschen mit seiner Mündigkeit auch seinen Wert. Und nimmt man einem Behinderten gegen seinen vielleicht auch unbewussten Willen seine Selbstständigkeit, nimmt man ihm auch seine Mündigkeit. Und ist die Würde des Menschen nicht unantastbar?

Jeder Behinderte kann für sich selbst entscheiden, ob er wegen seiner Behinderung an Wert verlieren oder gerade durch sie an Wert gewinnen möchte. Niemand sollte das für einen anderen entscheiden. Behinderte sind zwar behindert, aber noch lange nicht unnormal. Auch anders sind sie, aber nicht weniger fähig. In meinen Augen zeugt es nicht unbedingt von Respekt, einem Behinderten mit all den Klischees zu begegnen, die man im Repertoire hat. Von Respekt zeugt sich, sich einfach auf den Menschen einzulassen und zu sehen, was er einem zurückgibt.

Jeder stellt sich selbst auf eine bestimmte Weise dar - und beeinflusst damit auch alle anderen, die zu seiner Gruppe gehören. Und jeder sieht Menschen auf eine bestimmte Weise an, ohne hinter die Fassade zu blicken.

So wie ich hinter den Menschen, denen ich begegnet bin, viele Tatsachen entdeckt habe, die ihr Verhalten erklären und oftmals gar keinen Bezug zur Behinderung haben, möchte ich auch andere dazu aufrufen, darüber nachzudenken, ob wir nur das Vorurteil im Menschen sehen, oder das, das hinter ihm steckt.

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